OCCUPY TOGETHER! Kommt zum Forum der Menge!
Vorbemerkung: Dies ist kein gemeinsames Flugblatt der iL, sondern Dokument einer Positionssuche in der iL. Die Genoss_innen und Gruppen, die es diskutiert und verfassten haben, stellen hier vor dem Aktionstag des 15. Oktobers und der aktuellen Politik der Plätze ihre Überlegungen zur Diskussion. In der kurzen Frist, die nach dem Aufruf zum Aktionstag blieb, hatten wir nicht die Zeit, eine Debatte zu führen, an der alle hätten teilnehmen und die deshalb von allen hätte entschieden werden können. Wenn wir uns deshalb in dieser Weise äußern, liegt das nicht an einem tiefen inhaltlichen Dissens, sondern an der Weise unserer Organisierung. Als bundesweite Strömung oder Zusammenschluss (wie man will) lebt die iL von der Partizipation aller ihrer Aktivist_innen. Deshalb sind in der iL alle gefragt, wenn wir im Namen aller sprechen, muss es Zeit zur lokalen Aussprache und Antwort geben - was es uns nicht immer erlaubt, schnell gemeinsam auf politische Ereignisse zu reagieren. Mit diesem Text wollen wir die eigene Verständigung öffentlich machen, und wir tun das bewusst vor dem 15. Oktober. Alle Leser_innen sind zur Diskussion eingeladen: nicht notwendig mit uns, doch in jedem Fall dort, wo jede_r für sich und mit anderen versucht, die Verhältnisse zu ändern und deshalb die alte Frage stellt: Was tun?
OCCUPY TOGETHER! Kommt zum Forum der Menge!
Wir wollen, dass die interventionistische Linke den globalen Aktionstag am 15. Oktober unterstützt, zu dem Occupy together, democracia real ya und ungezählte Aktivist_innen auf der ganzen Welt aufrufen. Wir wollen das, obwohl uns wie allen anderen bis dahin kaum Zeit bleibt zur Vorbereitung der Aktionen, zum Schreiben der Manifeste, zur eigenen Aussprache über mögliche Forderungen, Losungen oder Erkennungsworte. An vielen Orten wird wenig, an einigen kann mehr geschehen; wir sehen keinen Grund, das Wagnis zu scheuen.
Wir verdanken diese Möglichkeit dem historischen Protest, zu dem sich in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid vor etwas mehr als einem Jahr einige hundert Demonstrant_innen zusammenfanden, einen Tag nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, der das Elend seines Lebens und die Demütigung durch die Polizei nicht mehr ertrug. Wir verdanken das dem überwältigenden Echo, dass die Demonstrationen von Sidi Bouzid binnen weniger Tage in Tunis, binnen weniger Wochen in Kairo, dann in Bengazi, in Daraa und Homs, in al-Manama und in Sanaa fanden, dem Echo, dass diese Demonstrationen dann im Verlauf dieses einen Jahres in Athen, Madrid und Barcelona, in Tel Aviv, Tottenham und in Santiago de Chile, in Teheran, Peking und Zomba/Malawi, in Wisconsin und schließlich in New York fanden – und hoffentlich bald überall finden werden: Occupy Wall Street, Occupy London Stock Exchange, Occupy Frankfurt Eurotower!
Wir reden und schreiben uns hier nicht in Rage und sind natürlich auch skeptisch, wenn auf immer mehr Plätzen in immer mehr großen und kleinen Städten dieser Welt plötzlich von einer Revolution die Rede ist. Wir sind das nicht, weil wir an der Revolution zweifeln, sondern weil wir wissen, dass dazu mehr gehören wird als die Manifeste von El Tahrir, von der Puerta del Sol oder dem Liberty Square aktuell für möglich und nötig halten.
Wir denken aber, dass dies einer der Augenblicke ist, die wir als Linke ergreifen sollten. Wir meinen, dass die Bereitschaft zur Teilnahme wichtiger ist als die kritischen Vorbehalte, die einem schnell einfallen, wenn man in Deutschland mal auf die unmittelbare Empörung der Menge setzt.
Die Bewegungen der letzten Monate sind trotz ihrer Plötzlichkeit nicht vom Himmel gefallen. Einiges von dem, was jetzt auf den Plätzen geschieht, kennen wir aus den Protesten des letzten Jahrzehnts – Stärken, aber auch Schwächen. Dazu gehört die prinzipielle Offenheit der Versammlungen, zu der nicht wenige Naivitäten gehören. Wir wissen, dass diese Offenheit auch von reaktionären Kräften genutzt wird, auch und gerade hier, in Deutschland und Europa. Ein Grund mehr, dabei zu sein und einzugreifen.
Wir wissen aber auch, dass gerade die Linke erst einmal zuhören muss: dass sie das Zuhören wieder lernen muss. Wenn die Demonstrant_innen in Madrid und Athen nicht nur die Funktionär_innen der bürgerlichen Parteien, sondern auch die Agitator_innen linker Gruppen und Grüppchen vom Platz gestellt haben, haben sie sich zu Recht gegen einen politischen Autoritarismus gewehrt, der glaubt, den Aufständischen die Welt erst erklären zu müssen, gegen die sie sich schon erhoben haben. Das letzte, was die Empörten auf den Plätzen der großen und kleinen Städte dieser Welt brauchen, sind Flugblätter, die ihnen den Kapitalismus, den Fetischcharakter der Ware oder die Notwendigkeit erklären, sich der Arbeiterklasse anzuschließen.
Natürlich gelten die Proteste der globalen kapitalistischen Krise, dem ungeheuerlichen Elend der Warenökonomie, der ebenso strukturellen wie alltäglichen patriarchalen, sexistischen, rassistischen Gewalt. Natürlich muss dieser Zusammenhang auch aufgeklärt, ausgesprochen und benannt werden. Die Verunsicherung, ja die Aussichtslosigkeit des individuellen wie des kollektiven Überlebens, die in den Versammlungen und Erklärungen von occupy together oder democracia real ya skandalisiert wird, hat eben nicht nur mit „neoliberaler“ Arbeitsmarkt- oder Bildungspolitik zu tun. Sie hat auch nicht nur mit der Korruption der managerialen und der politischen Klasse und der „Entleerung der Demokratie“ zu tun. Und natürlich war der prinzipielle Ausschluss politischer Parteien schon in den Sozialforen nicht nur eine Antwort auf altlinken Dirigismus: Sie war und ist auch ein Zeichen der Unreife der ersten globalen Protestbewegung nach der antikommunistischen Offensive nach 1989. Doch beginnt die reale Demokratie, die nach unserer Auffassung die Abschaffung des Kapitals einschließen wird, hier und heute mit der Demokratie der Versammlungen auf den Plätzen: also mit der Offenheit und Unabschließbarkeit ihrer Debatten. Das ist keine Nötigung zum „linken“ Populismus, den es sowieso nicht gibt. Doch liegt darin die Aufforderung, endlich auf eine formelhaft erstarrte „linke“ Rhetorik zu verzichten, die weder die heutigen Verhältnisse noch die Leute trifft, die sich ihnen widersetzen. Das gilt umso mehr, als die aktuellen Ausdrucksformen uns als undogmatischen Linken eigentlich so nah sind, dass wir uns nur freuen können, ihnen wieder zu begegnen: die Bereitschaft, trotz staatlich-polizeilichen Verbots auf die Straße zu gehen, die Wiederkehr des popularen Aufstands, das Forum der Menge. Darüber sollten wir reden, öffentlich mit anderen, aber auch „unter uns“, dort wo wir jetzt schon sind und fragen: Was und wie sollen wir es tun?
Natürlich muss von der Krise die Rede sein. Von der Krise des Kapitals, seiner Politik, seiner Kriege. Von der Krise seines Euros. Von der Rolle, die insbesondere das deutsche Kapital und die deutsche Regierung spielen: in der Durchsetzung post- und antidemokratischer Machtverhältnisse auf nationaler, kontinentaler und globaler Ebene, in der Durchsetzung brutaler Austeritätsregimes in den Rand-, doch schon jetzt auch in den Kernstaaten der EU. Von den Angriffen auf die individuellen und kollektiven Einkommen, die Systeme der sozialen Sicherung, die öffentlichen Güter. Von der Liquidation erkämpfter sozialer, ökonomischer und politischer Rechte. Doch muss zugleich deutlich werden, dass diese Politik auch einer tiefgreifenden Konfusion, einem unsicheren Navigieren auf kürzeste Sicht und einer tendenziell panischen Flucht nach vorn entspringt. Natürlich bleiben das Kapital und seine Politbürokratie trotzdem lebensgefährlich, für jeden und jede einzelne wie für Millionen. Doch müssen wir ihren „Durchmarsch um jeden Preis“ immer auch als Zeichen ihrer Desorientierung und Hysterie kenntlich machen, wenn wir dem Popanz der Macht nicht auch noch von links zuarbeiten wollen.
Vor allem aber muss deutlich werden, dass die ökonomische Krise zwar eine berechenbare objektive Dimension hat, dass aber erst dann von einer politischen Krise gesprochen werden kann, wenn ihre unberechenbare subjektive Dimension zum Tragen kommt. Ihrem Begriff nach ist eine Krise eine Situation der Not und der Zuspitzung, die auf einen Höhe- und Wendepunkt und darin auf eine Entscheidung zutreibt. Das ist es, was die Aktivist_innen in Tunis und Kairo wie in Teheran und Santiago verstanden und in großartiger Weise zum Ausdruck gebracht haben. Nicht nur in Worten, sondern auch in der Form einer Bewegung, die ihrer der Tendenz nach als Bewegung des Metropolenstreiks verstanden werden kann: Occupy Kairo, Occupy New York, Occupy Frankfurt!
Der Metropolenstreik hat es nicht nur mit den Straßen und Plätzen, er hat es auch mit den Strömen und Netzen der Städte und zwischen den Städten zu tun: den materiellen und immateriellen Netzwerken und Strömen der Güter, der Dienste, der Menschen, ihrer Beziehungen, ihres Wissens. Er hat es mit der von niemandem zu behebenden Anfälligkeit dieser Netze für Störungen verschiedenster Art zu tun. Hier gilt es, Interventionen zu erproben, die diese Anfälligkeit für überraschende Effekte zu nutzen wissen.
Der Metropolenstreik weiß aber auch um die Unterschiedlichkeit seiner Welten. Sofern wir hier im Weltmaßstab „Privilegierte“ sind, muss sich unser Universalismus immer neu beweisen, damit metropolitane Kämpfe nicht auf Kosten anderer geführt werden. Gerechtigkeit der Metropole heißt denn auch: Kämpfe um Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, um überhaupt erst weltweit teilen zu können, heißt sich Gegenmacht anzueignen, um die Beschleunigung der imperialen Gewalt anderswo unterbrechen zu können. Wir sind nicht in Sidi Bouzid und kommen nicht aus den Megaslums von Kairo, wir erheben uns nicht gegen nackte Not und die Despotie ewiger Cliquenherrschaft, sondern sind sofort mittendrin in der Sozialisierung der Kontrolle, den Überwachungs- und Erfassungsdispositiven technologisch fortgeschrittenster Herrschaft. Wir leben in dem Teil des Imperiums, in dem jede und jeder immer auch Profiteur_in der globalen Desintegration ist, selbst wenn wir selbst auch Opfer der kapitalistischen Dynamik wurden. Wenn es in den arabischen Aufständen um die Wiederaneignung demokratischer Souveränität geht, kann es uns hier nur um die maximale Aufhebung bestehender nationaler Souveränität durch noch einmal weitergehende demokratische Rechte gehen. Das ist die linke Differenz zum populistischen Europa-Skeptizismus, zum deutschen Geraune der Gauweilers und Sarrazins.
Auch davon muss am 15. Oktober die Rede sein: und mehr noch in den Wochen und Monaten nach dem globalen Aktionstag. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Europäische Zentralbank im Frühjahr 2012 ihren Sitz noch immer in Frankfurt haben. Eurotower und Bankenmetropole könnten dann noch viel nachhaltiger als am 15. Oktober bestreikt werden.
Wer auf den Plätzen gehört werden will, muss in Verbindung treten: nicht nur am 15. Oktober. Wir wollen dorthin, um zu bleiben, und das ist nicht nur eine Frage der Zelte. Empörung kann nicht simuliert werden: Wir sind wirklich sauer. Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger. Alles zu werden, strömt zuhauf.