Konstituierende Prozesse

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arranca! #47 Call for Participation

„Ihr repräsentiert uns nicht!“ - Der Slogan der spanischen 15m-Bewegung bringt ein tiefes Unbehagen zum Ausdruck, eine breite Unzufriedenheit mit einem politischen System, mit dem sich viele Menschen nicht mehr identifizieren können. Was in den Massenprotesten gegen die Austeritätspolitik in Südeuropa, in Platzbesetzungen und Stadtteilversammlungen nur zu deutlich wurde, geistert doch auch hierzulande schon länger durch die Medien: Es herrsche Politikverdrossenheit, Parteien und Gewerkschaften laufen die Mitglieder weg, Spielräume für demokratische Prozesse scheinen sich irgendwo zwischen den Erfordernissen „der Finanzmärkte“ und den Sachzwängen der „Wettbewerbsfähigkeit“ des Exportstandorts aufzulösen – so wie in Angela Merkels Schlagwort von der „marktkonformen Demokratie“, in der die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet werden soll, dass sie den Erfordernissen „der Märkte“ entspricht. Aber damit ist in der Krise auch der Begriff der Demokratie frei geworden. Statt bei der Kritik an formaler, parlamentarischer Demokratie stehen zu bleiben, wird der Begriff neu besetzt: Im Zuge der autoritären Kürzungspolitik spricht sich nicht nur in Spanien herum: „Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine!“

Es ist die repräsentationistische Politik selbst, die in der Krise steckt. Die etablierte Politik scheint keine Alternative mehr zum neoliberalen Weiter-so zu kennen, kein Integrationsprojekt zu entwickeln, das die wachsende Zahl der Unzufriedenen wieder einbinden könnte. Doch auch linken Organisationen und Bewegungen fehlt es an Transformationsprojekten, an Strategien wie sich dieses Unbehagen organisieren und Veränderung durchsetzen kann. Die neuen Bewegungen stellen auch tradierte linke Identitäten und Politikmuster in Frage. Und wo das Alte gescheitert ist und das Neue nicht zur Welt kommen kann, steigt die Gefahr autoritärer und reaktionärer „Lösungen“, wie auch am Aufschwung des Neo-Faschismus in Griechenland deutlich wird.

Doch das Neue scheint in Sichtweite: Konstituierende Prozesse, Institutionen des Gemeinsamen, destituierende Praxen und konstituierende Claims, Projekte der Selbstregierung, Perspektiven von direkter Demokratie und konstituierender Macht schwirren durch die transnationalen Bewegungsdiskurse. Was ist mit den Verfassungsprozessen in Südamerika, selbstorganisierten Basisbewegungen, Projekten von kommunalem Staat oder kommunitärem Sozialismus; der Idee einer Wiki-Constitution und Institutionen-Hacking in Island; dem Aufbau kommunaler Räte und dem Konzept der demokratischen Autonomie in Kurdistan; besetzten Kultureinrichtungen in Italien, die sich als konstituierende Institutionen begreifen; selbstverwalteten Betrieben und Nachbarschaftsversammlungen und Konzepten direkter Demokratie in Griechenland? Könnte sich in Spanien zu einer Art Ausdehnung der konstituierenden Demokratie der Plätze auf die Gesellschaft entwickeln? Bedarf es als Gegenentwurf zu Eurokraten und Nationalismen, eines bolivarianischen Prozesses für Europa? Entstehen zapatistische Organisationen in westlichen Metropolen, und welche Rolle spielen Commons – und die Diskussionen um sie – in all diesen Prozessen?

Die Perspektive Konstituierender Prozesse scheint uns auf drei Ebenen interessant: Als demokratischer Prozess der gesamtgesellschaftlichen Verständigung, Entwicklung von partizipativen Organisationsformen, konstituierenden Claims und Transformationsstrategien hin zu einer anders verfassten Gesellschaft. Als Aufbau konstituierender Institutionen, die ein Recht des Gemeinsamen schaffen, innerhalb des bestehenden Rechtsordnung, und weit über diese hinaus. Als strategischer Ansatz, der Bewegungen als Quelle des Neuen ernst nimmt und sich auf konkrete Projekte einlässt, die reale materielle Veränderung und utopischen Überschuss verbinden.

Wir wollen raus aus dem reinen Gewissen der linken Subkultur. Statt immer nur die Frage nach der besseren Kapitalismuskritik zu stellen, wollen wir nachdenken über neue Räume demokratischer Organisierung und den Aufbau einer Gegenhegemonie von unten. Statt einer Trennung von Theorie und Bewegung das Wort zu reden, wollen wir eine theoretische Reflexion der transformativen Praktiken der Bewegungen in den Mittelpunkt rücken, ihre konstituierende Macht. Auch hierzulande gilt es in die Offensive zu kommen, Grenzen der Institutionalisierbarkeit zu verschieben, konkrete Schritte von Gegenmacht und Selbstregierung anzudenken, die Fallstricke einer immer nur „kritischen Kritik“ zu überwinden und stattdessen die Einheit von Theorie und Praxis auch mal positiver und konstruktiv zu denken.

(Wie) kann eine solche Perspektive aufbauen auf Debatten zu Richtungsforderungen und Vergesellschaftung? (Wie) können sich Subjekte eines solchen Prozesses konstituieren? Und ermöglichen Begriffe wie die der Mosaiklinken, der Multitude, oder der 99% mehr als eine Aufzählung eigentlich widersprüchlicher Elemente? Welche konstituierenden Erfahrungen aus anderen Regionen könnten auch im deutschsprachigen Raum interessante Resonanzen ermöglichen? (Wie) kann Demokratie jenseits des Staats entwickelt werden? Können Institutionen als Dispositive der Produktion demokratischer Subjektivitäten konstruiert werden? Ermöglichen Internet, soziale Netzwerke und kognitive Arbeit neue Formen demokratischer Teilhabe? Sind die Platzbesetzungen und Stadtteilversammlungen eine Art Sowjets eines neuen Kommunismus? Welche Rolle spielen Commons oder die Allmende und der Aufbau eigener Institutionen für konstituierende Prozesse? Verfallen wir hier in alte Illusionen? Wie sieht es mit der ökonomischen Machbarkeit im Alltag aus? Welche Relevanz haben konstituierende Prozesse für das alltägliche Leben, und wo liegen ihre Schwachstellen? Oder beginnt die Uhr der bürgerlichen „Demokratie“ langsam wirklich abzulaufen? Und was heißt das für uns – für die nächsten Schritte linker Bewegung?

Wir freuen uns auf eure Ideen und Vorschläge für Artikel, Reportagen, Interviews, Zeichnungen, Gedichte … Und nehmen übrigens immer auch Vorschläge entgegen, die sich nicht mit diesem thematischen Schwerpunkt befassen.

Der Einsendeschluss für eure Artikelvorschläge ist der 25. April, Redaktionsschluss für die ausgearbeiteten Artikel ist der 15. Juni.

arranca! Redaktion im März 2013

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