Venezuela - Ein Land zwischen Reformen und Revolution

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Wir freuen uns über klaren Sieg der "Bolivarianischen Revolution" über die rechte Opposition beim Referendum vom 15. August 2004!


Egal, ob man die Veränderungen in Venezuela nun als "Reformen" oder "Revolution" bezeichnet, fest steht: In kaum einem anderen Land finden zur Zeit so tiefgreifende Umwälzungen statt wie in dem südamerikanischen Land. Die Bewohner von Armenvierteln organisieren sich in Stadtteilversammlungen und können - dank eines neuen Mitbestimmungsgesetzes - über die Vergabe von öffentlichen Haushaltsmitteln mitentscheiden. Auf dem Land besetzen die Sin Tierras (landlose BäuerInnen) brachliegenden Großgrund und erhalten bei der Gründung von Kooperativen staatliche Unterstützung. Ein neues Mediengesetz erleichtert die Gründung von alternativen Radio- und Fernsehstationen. Mit Alphabetisierungs- und Gesundheitskampagnen werden die Lebensbedingungen gerade in den Slums verbessert.

 

Die Regierung hat die lateinamerikanische Wirtschaftskooperation vertieft, verhält sich kritisch gegenüber den neoliberalen Freihandelsmodellen von EU und USA und hat in mehreren Industrien neue Mitbestimmungsgesetze erlassen. Über die Verwendung der Einnahmen des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA wird erstmals seit 30 Jahren öffentlich debattiert. Staaten des Südens beziehen venezolanisches Erdöl zum Vorzugspreis. Zudem sind die Rechte von Indigenen und Afro-Venezolanern in der neuen Verfassung von 1999 ausgebaut worden.

Eine kurze Geschichte der "Bolivarianischen Revolution"

In den Medien werden die Entwicklungen in Venezuela stets auf die Person Hugo Chávez reduziert - als ob Veränderungen ausschließlich von Regierungen ausgingen. Tatsächlich ist es eher anders herum gewesen: Dass Chavez 1998 (ziemlich überraschend) zum Präsidenten gewählt wurde, hatte mit den sozialen Revolten seit Ende der 1980er Jahre zu tun.

Venezuela galt historisch als einer der ärmsten Staaten Lateinamerikas. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Land zur Entwicklungshoffnung auf dem amerikanischen Kontinent. Die Erschließung von Erdölvorkommen bescherten dem Land große Einnahmen (zuletzt jedes Jahr um die 20 Milliarden US-Dollar). So wanderten aus den lateinamerikanischen Nachbarstaaten Millionen Menschen illegal ein. Jeder zehnte der 25 Millionen Einwohner ist beispielsweise kolumbianischer Abstammung. Aber auch aus Italien, Spanien und Portugal kamen Hunderttausende, die sich in Venezuela eine bessere Zukunft erhofften.

Erdöl, Korruption und Krise

Die staatlich finanzierten Großprojekte, die 1945-80 überall im Land entstanden (Staudämme, Straßen usw.), entpuppten sich mit der Zeit immer deutlicher als Maßnahmen zur Bereicherung der Oberschicht. Nach dem Sturz des Diktators Marcos Pérez Jiménez 1958 hatten Christ- und Sozialdemokraten den so genannten "Punto Fijo"-Pakt geschlossen, mit dem die Macht und damit auch der Zugang zu den Staatskassen untereinander aufgeteilt wurde. Das Abkommen diente vor allem dazu, die kommunistische Partei auszugrenzen, die im Widerstand gegen die Diktatur eine zentrale Rolle gespielt hatte. Da der Reichtum Venezuelas sich fast ausschließlich aus den Öleinnahmen speist, verwandelten sich die politischen Parteien immer mehr in Apparate zur privaten Bereicherung. Ein Großteil der für Bauprojekte bewilligten Gelder wurde einfach auf eigene Konten umgeleitet.

Der aus einfachen Verhältnissen stammende, sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez etwa (lange Jahre auch Vize-Präsident der Sozialistischen Internationalen) eignete sich während seiner ersten Amtszeit Anfang der 1970er Jahre eines der größten Privatvermögens Lateinamerikas an. Mitte der 1980er geriet die venezolanische Modernisierung in die Krise: Der Erdölpreis und damit auch die Staatseinnahmen sanken, gleichzeitig sorgte die Reagan-Regierung in den USA dafür, dass die Zinsen stiegen. Auf einmal steckte Venezuela (wie alle lateinamerikanischen Staaten) in einer Schuldenkrise.

1988 wurde der Sozialdemokrat Carlos Andrés Pérez erneut zum Präsidenten gewählt. Die Bevölkerung hoffte, dass die Regierung wie in den 1970ern mit Großbauprojekten Arbeitsplätze schaffen würde. Doch Pérez unterwarf sich den Sparprogrammen des Internationalen Währungsfonds (IWF): Kürzung der Staatsausgaben, Privatisierungen, Abbau des Gesundheits- und Bildungswesens usw.

Caracazo 1989: Vom Aufstand zur Entstehung einer neuen Opposition

Als im Februar 1989 die Preise für den öffentlichen Nahverkehr angehoben wurden, kam es zu einer - völlig unerwarteten - Massenrevolte der Bevölkerung. Unabhängig von den linken Organisationen strömten die SlumbewohnerInnen in Caracas und anderswo ins Zentrum und plünderten die Geschäfte. Die Regierung antwortete mit brutaler Gewalt: Die Nationalgarde tötete im März 1989 zwischen 1.000 und 5.000 Menschen.
Diese Ereignisse wurden zum Initialzünder der "Bolivarianischen Revolution". Nach dem Massaker entstanden Netzwerke von Basisprojekten, Stadtteilgruppen, alternativen Medien und Menschenrechtskomitees (die eine Strafverfolgung der Verantwortlichen in der Regierung forderten). Es handelte sich um eine neue Opposition von unten - weitgehend unabhängig von den traditionellen linken Gruppen.

Parallel entwickelte sich auch in der Armee eine "Aufstandsbewegung". Viele Soldaten und Unteroffiziere waren erbost darüber, dass die Eliten sie zur Niederschlagung der Massenproteste instrumentalisiert hatten. 1992 kam es zu zwei Putschversuchen von Teilen des Militärs, die auch von linken Stadtteilorganisationen unterstützt wurden. Die Umsturzversuche scheiterten zwar, aber der Anführer eines Putsches - Unteroffizier Hugo Chávez Frías - wurde sich in einen Volkshelden.

Die Regierung von Carlos Andrés Pérez war so unpopulär, dass die Offiziere um Chávez nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt werden konnten. 1995, als Chávez wieder aus dem Gefängnis entlassen worden war, gründete er eine oppositionelle Sammlungsbewegung. Die "Revolutionär-Bolivarianische Bewegung" (MBR, heute MVR) war sehr heterogen. Die Gemeinsamkeiten beruhten auf drei Prinzipien der Unabhängigkeitsbewegung unter General Simón Bolívar 1810-1830: lateinamerikanische Einheit, eine Art früher Antiimperialismus gegenüber Europa und den USA sowie soziale Reformen. Die neue venezolanische Opposition trat im grunde mit der Forderung an, die unerfüllten bürgerlichen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Demokratie umzusetzen.

Die Regierung Chávez seit 1998: Verfassungsreform und Souveränität gegenüber USA und EU

Völlig unerwartet gewann diese Bewegung, die sich mit der linksgewerkschaftlichen PPT, der linkssozialdemokratischen MAS und der Kommunistischen Partei verbunden hatte, 1998 die Wahlen.

Die neue Regierung unter Präsident Chávez setzte zunächst auf außenpolitische Maßnahmen und eine Verfassungsreform. Venezuela nahm eine kritischere Haltung gegenüber den USA ein, verhinderte 1999 eine Militärintervention in Kolumbien, fördert die lateinamerikanische Wirtschaftsintegration (als Alternative zum Freihandelsabkommen mit den USA) und holte Kuba aus der Isolation. All dies hat Venezuela die erbitterte Feindschaft der USA und Europa eingebracht.

Ebenso wichtig war die Verabschiedung einer neuen Verfassung 1999. Venezuela ist keine repräsentative Demokratie mehr, sondern eine "partizipatorische, protagonische", wie es im Verfassungstext heißt: das heißt, die Bevölkerung wird zur politischen Aktivität ermuntert. Es gibt seitdem viele basisdemokratische Elemente in der venezolanischen Verfassung: Volksentscheide, Plebiszite und direkte Entscheidungen vor Ort (zum Beispiel in Nachbarschaftsversammlungen) werden gefördert. Außerdem hat die Verfassung die Rechte der Indigenen ausgebaut und dem Neoliberalismus eine Absage erteilt.

In den ersten Jahren unter Chávez gab es kaum soziale Reformen. Das hat sich erst 2001 geändert, als eine Agrarreform, ein neues Bildungsgesetz (das ärmeren Kindern den Zugang zu den Universitäten erleichtern sollte) und ein Dekret zur Legalisierung von Landbesetzungen in der Stadt vorgeschlagen wurde. Außerdem versuchte die Regierung, die Einnahmen des staatlichen Erdölunternehmen PDVSA umzuverteilen.

Die bürgerliche Opposition

Als Antwort auf die Reformvorhaben organisierte sich die Opposition in Venezuela: Die traditionellen Parteien, die Eliten aus der Erdölindustrie, die privaten Medien, der Unternehmerverband, aber auch der sozialdemokratische Gewerkschaftsverband CTV riefen zum Generalstreik gegen die Sozialreformen auf und organisierten im April 2002 einen Putsch. Nur Proteste der armen Bevölkerungsmehrheit und der Widerstand eines Teils der Militärs sorgten dafür, dass die Putschregierung nach drei Tagen wieder stürzte.

Im Dezember 2002 / Januar 2003 versuchte die Opposition es erneut: mit Aussperrungen und einem Streik in der Ölindustrie wurde die Wirtschaft fast 60 Tage lahm gelegt. Doch auch hier sorgten hauptsächlich die SlumbewohnerInnen dafür, dass der Umsturzversuch scheiterte. Seitdem ist das Land von einem regelrechten Selbstorganisierungsfieber erfasst. Ob landlose Kleinbauern, SchülerInnen oder Slumbewohner - überall ist die Rede von einem „Venezuela von Unten". Diese Bewegungen haben 2003 und 2004 (zum Teil mit der Regierung Chávez, manchmal aber auch im Konflikt mit Ministerien) bisher nicht da gewesene Mitspracherechte eingefordert.

Warum wir den Prozess in Venezuela unterstützen sollten:

Man muss die venezolanische Regierung Chávez nicht idealisieren - auch unter ihr gibt es Korruption, Borniertheit und Machtkonzentration. Doch eines lässt sich nicht leugnen: Venezuela ist heute eines der wenigen Länder der Welt, in denen Alternativen zum Neoliberalismus aufgezeigt werden. Und dieser Prozess wird - anders als in den bürgerlichen Medien dargestellt - nicht nur von der Regierung, sondern von einer breiten Basisbewegung getragen: vom neuen Gewerkschaftsverband UNT, von selbstorganisierten Stadtteilkomitees, Bauernorganisationen, alternativen Medienprojekten ...

Dieses Projekt steht heute unter massivem Druck: Die Regierung Chávez und ihre Politik sind seit 1998 sechs Wahlen und landesweiten Referenden unterworfen worden. Sie hat alle gewonnen und wird dennoch international als undemokratisch diffamiert. Ihr entscheidendes Manko: Im Gegensatz zur bürgerlichen Opposition verfügen die Anhänger Chávez' über kaum Finanzmittel und Medien.

Venezuela geht es heute ähnlich wie Chile unter Allende (1970-1973) oder dem sandinistischen Nicaragua (1979-1990). Mit massivem internationalem Druck soll das Experiment beendet werden. Die Putschversuche 2002 wurden von den Regierungen in Madrid und Washington unterstützt. Rechte Parteien in Venezuela erhalten unter dem Motto „Förderung der Demokratie" hohe Geldbeträge von internationalen Stiftungen. Auch die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung ist an diesen Aktivitäten beteiligt.

Warum? - Weil weder die USA noch die EU ein Interesse daran haben, dass der neoliberale Mainstream in Frage gestellt und alternative Entwicklungskonzepte diskutiert werden; weil eine Wirtschaftskooperation der Staaten im Süden die Märkte der Unternehmen in den USA und Europa begrenzt; und weil eine politische Bestimmung des Ölpreises, wie ihn Venezuela mit durchgesetzt hat, die Macht der Industriestaaten beschränkt.

Der US-Regierung geht es darüber hinaus auch um die Durchsetzung des "Plan Colombia". Mit dem Militärplan, der jährliche Zahlungen von 500 Millionen US-Dollar an die kolumbianische Armee beinhaltet, sichern die USA die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen in der Amazonas- und Anden-Region. Venezuela widersetzt sich dieser Politik.

Eine rechte „Contra" in Venezuela?

Der wichtigste Verbündete der US-amerikanischen Rechten in Lateinamerika ist heute die kolumbianische Regierung. Besonders aus Bogotá wird gegen die Veränderungen in Venezuela mobilisiert. Der kolumbianische Vize-Präsident Francisco Santos hat Chávez beispielsweise unlängst als "größtes Sicherheitsrisiko" Lateinamerikas bezeichnet. Der kolumbianische Kongress forderte im März 2004, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) solle Sanktionen gegen die venezolanische Regierung verhängen.

Dabei gibt es schon heute paramilitärische Gruppen in Venezuela, die von Viehzüchtern und Industriellen finanziert und von den kolumbianischen Todesschwadronen offensichtlich unterstützt werden. 150 venezolanische Kleinbauern-AktivistInnen wurden in den vergangen 2 Jahren von Todesschwadronen ermordet. Der kolumbianische Paramilitär-Chef Carlos Castaño brüstete sich vor einiger Zeit damit, eine venezolanische Schwesterorganisation zu trainieren. Im Mai 2004 wurden schließlich mehr als 100 kolumbianische Paramilitärs in Caracas verhaftet. Einige von ihnen sagten aus, sie hätten wenige Tage später in venezolanischen Armee-Uniformen Polizeiposten angreifen sollen. Insgesamt seien 3.000 Paramilitärs für eine Offensive mobilisiert worden.

Das erinnert stark an die Zustände in Nicaragua in den 1980er Jahren. Damals agierten rechte Rebellen, finanziert von den USA, vom Territorium des Nachbarlands gegen das sandinistische Nicaragua. Die Contra gewann den Krieg damals zwar nicht, aber sie zermürbte die Bevölkerung so lang, bis diese 1990 die Sandinisten wieder abwählte.

Und genau darum scheint es auch diesmal wieder zu gehen: Venezuela ist eine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus. Weil die venezolanische Bevölkerung den Prozess bisher trotz aller Medienpropaganda unterstützt hat, wird mobil gemacht - von der Finanzierung der bürgerlichen Parteien bis hin zu dubiosen Anschlägen und militärischen Aktionen.

Die Verantwortlichen für diese Politik sitzen in Washington, Madrid, Paris, London und Berlin.

ALB, Kolumbienkampagne + FelS im Juli 2004

Zum Weiterlesen:

  • Kanal B: Venezuela - Eine andere Art ist möglich (Video);
  • Ressler / Azzellini: Venezuela von Unten (Video);
  • Zelik / Bitter / Weber: Made in Venezuela (Tagebuch, Verlag Assoziation A)


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