"Deutsche Zustände" ins Visier nehmen
Mindestens zehn Morde, zwei Anschläge mit mehreren Verletzten und 14 Banküberfalle verübten die drei aus Jena stammenden Nazis. Nachdem der anfängliche Schock überwunden und die Empörung abgeflaut sind, haben die Verfechter_innen der „wehrhafte Demokratie“ die Deutungshoheit in Sachen "Nationalsozialistischer Untergrund" übernommen. Die Bundesregierung redet vom NPD-Verbot und wertet die versagenden Sicherheitsbehörden weiter auf. Die Familien der Mordopfer und die Verletzten der Anschläge sind dagegen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent. Institutioneller Rassismus und feindliche Haltungen gegenüber Migrant_innen, Muslimen, sozial Schwachen und andere als „fremd“ und „minderwertig“ definierte Gruppen wurden nur am Rande thematisiert. Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerrechtsorganisationen brachten sich nur zögerlich in die Diskussion ein. Und die radikale Linke? Haben wir nicht immer vor den Nazis gewarnt, den Verfassungsschutz kritisiert und die Behörden der "Blindheit auf dem rechten Auge" verdächtigt? Gewiss, aber können wir uns deshalb mit einem befriedigenden Immerschongewusst-Gefühl zurücklehnen?
Nein, natürlich nicht. Die Politik reagiert ganz anders als es die Linke erwartet: Der Verfassungsschutz wird nicht aufgelöst, rassistisches Denken wird nicht als gesamtgesellschaftliches Phänomen erkannt und bekämpft, die Nazi-Organisationen werden weiter arbeiten können und antifaschistisches Engagement wird weiterhin kriminalisiert. Es ist also an der Zeit, dass die radikale Linke dazwischen geht!
Die extreme Rechte stand und steht so wenig abseits dieser Gesellschaft wie die „Zwickauer Zelle“ losgelöst von den organisierten Nazi-Netzwerken agierte. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten haben sich in vielen Regionen Deutschlands neonazistische Milieus herausgebildet. Diese „Deutschen Zustände“ werden aber in der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen. FelS sieht es daher als Aufgabe, den Zusammenhang zwischen militanter extremer Rechter und der Mehrheitsbevölkerung noch stärker in den Mittelpunkt der antifaschistischen Praxis zu rücken. Dabei sollten wir auf die Erfahrungen und Kooperationen aufbauen, die wir in zivilgesellschaftlichen Bündnissen wie „Dresden Nazifrei“ gemacht haben. Dort brauchen wir eine Auseinandersetzung mit unseren Partner_innen um Rechtsextremismus und Alltagsrassismus, um unsere Sprachlosigkeit zu überwinden und öffentlichen Druck gegen die verantwortliche Politik und die Sicherheitsbehörden aufzubauen. Gleichzeitig müssen wir die antifaschistische Alltagspraxis weiterentwickeln, die sowohl gewalttätige Nazis wie auch betont bürgerliche Rassist_innen in den Fokus nimmt. Es gilt, die Normalisierung rechter Politik(angebote) ebenso zu bekämpfen wie die soziale, politische und institutionelle Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihres sozialen Status oder ihrer sexuellen Orientierung.
Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist in der Zeitung "analyse & kritik", Nr. 568 erschienen.