Alles klar oder schleyerhaft: Der Rechtsstaat in Beugehaft
Einige Anmerkungen zu einer schaurigen Diskussion
Man fühlt sich wie in einem schlechten Film. Nur fehlt das Popcorn und der Film will nicht so recht enden. Dreißig Jahre nach dem so genannten Deutschen Herbst wird über die RAF so diskutiert, als würde sie noch immer existieren, als hätte sie sich mit Osama bin Laden verbündet und bedrohe die Bundesrepublik Deutschland in ihren Grundfesten. Dass dem nicht so ist, ist bekannt; schließlich ist die RAF seit ihrer Selbstauflösung im Jahre 1998 Geschichte.
Obwohl diese Tatsache allgemeint bekannt ist, drehen die VorkämpferInnen für Demokratie und Rechtstaat auf, als sei ihnen der Teufel auf den Fersen. Amtierende PolitikerInnen, pensionierte RichterInnen und öffentlichkeitssüchtige Talkshow-Dauergäste legen einen derart ungewohnten Eifer an den Tag, wenn es darum geht zu begründen, warum Gnade für ehemalige RAF-KämpferInnen nicht in Frage kommt, dass man sich fragt, wie hoch die Prämie ist, die auf den extravagantesten Vorschlag ausgelobt ist. Da kommt keiner auf die Idee zu fragen, ob es einem bürgerlichen Rechtsstaat angemessen ist, Menschen über zwanzig Jahre einzusperren, obwohl ihnen keine persönliche Verantwortung für die ihnen vorgeworfenen Taten nachgewiesen werden kann. (Noch mal zur Erinnerung: kein einziger NS-Verbrecher saß so lange in einem deutschen Gefängnis.) Stattdessen wird von den Inhaftierten eine obrigkeitsstaatliche Geste verlangt – die Verurteilen sollen zur Aufklärung der Fälle endlich ihren Beitrag leisten und öffentlich Reue zeigen. Das ist – auch innerhalb der Logik des bürgerlichen Rechtsverständnisses – gelinde gesagt eine absurde Situation.
Um diese Situation zu verstehen, hilft es, sich die Grundlage der RAF-Urteile zu vergegenwärtigen, den Paragraph 129a. Paragraph 129a (Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung) macht eine Verurteilung ohne individuelle Tatbeteilligung zu Strafen bis zu zehn Jahren möglich. Im Falle der RAF sorgte das höchstrichterlich abgesegnete Konstrukt der Kollektivschuldthese gar dafür, dass auch der individuelle Schuldnachweis für die einzelnen Anschläge obsolet war: Da man in der RAF jede Aktion kollektiv diskutiert und entschieden habe, sei auch jeder für jede Tat verantwortlich. Dieses Konstrukt bildet auch für die Urteile der vier gegenwärtig noch inhaftierten RAF-Gefangenen die Grundlage.
Der auf Repression linker Politik ausgerichtete Gesinnungsparagraph 129a wird wohl so schnell nicht abgeschafft werden. Dafür sorgt nicht zuletzt der „war on terror“, der auch den bundesdeutschen „law and order“-Anhängern die Stichworte liefert, um die Notwendigkeit von „Anti-Terror“-Maßnahmen zu rechtfertigen. Der Abbau rechtsstaatlicher Regelungen und der Ausbau des präventiven Sicherheitsstaats seit den 1970er Jahren geht heute weiter, er wurde mit den Anti-Terror-Gesetzen nach dem 11. September 2001 sogar noch übertroffen. Dass die Maßnahmen von damals auch heute noch ihre Anwendung finden, hat sicherlich auch dazu geführt, dass die skandalöse Justizpraxis der 1970er und 1980er Jahre nie aufgearbeitet wurde. Angesichts der Aktualität solcher Fälle wie der von Murat Kurnaz und Khalid El Masri lässt sich schwerlich zugeben, dass der deutsche Rechtsstaat schon in den 1970er Jahren über die Stränge geschlagen, immer wieder grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien missachtet und verfassungswidrige Formen der Exekutive eingeführt hat, wie etwa die „Krisenstäbe“ im Zuge der Vorkommnisse von 1977.
Was dann aber dennoch verwundert, ist, wie doch immer wieder die bürgerliche Form der Rechtssprechung in Frage gestellt wird, nämlich dass weder das Opfer einer Straftat selbst, noch Angehörige richten sollen. Eine solche Selbstjustiz war Kennzeichen vorbürgerlicher, ja archaischer Justiz. Dem bürgerlichen Anspruch nach ist die staatlich Strafe an die Stelle individueller Rache getreten. Nur so ist es dem Staat möglich, sein Gewaltmonopol sicher zu stellen und stabile Erwartungen über die Rechtsprechung zu produzieren („Was passiert, wenn ich mich so und so [rechtswidrig] verhalte?“). Aber was ist es anderes als das Recht auf Selbstjustiz einzuklagen, wenn immer und immer wieder darauf hingewiesen wird – zuletzt von Problembär Edmund Stoiber – dass den Angehörigen der RAF-Opfer wohl kaum eine vorzeitige Haftentlassung der mutmaßlichen Täter recht sein könnte?
Und die Linke? Sie schweigt oder unterstreicht, dass sie in den bundesrepublikanischen Verhältnissen angekommen ist, indem sie die Differenz zwischen einem guten Rudi Dutschke und der bösen RAF konstruiert. „Holger, der Kampf geht weiter“ rief Dutschke noch am Grab von Holger Meins, der 1974 bei einem Hungerstreik zu Tode kam. Damals war noch klar wofür (Revolution) und wogegen (Staat und Kapital) man kämpfte – nur über die Mittel stritt man sich. Erinnert sei hier etwa an Ex-Außenminister Fischer, der die „GenossInnen der RAF“ noch dazu aufforderte „die Bomben wegzulegen und die Steine wieder aufzunehmen“.
Eine solche Form der Solidarität ist heute nicht mehr sichtbar. Und das hat Gründe. Untergraben wurde sie nicht zuletzt durch die sektiererische Politik derjenigen Gruppen, die mit dem bewaffneten Kampf liebäugelten und auf eine Militarisierung der Politik setzten. Bei ihnen traten oft moralische Freund-Feind-Einteilungen an die Stelle von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die auf Vermittlung der eigenen politischen Standpunkte zielte. Aber auch die andere „Fraktion“ der Linken hat zu einer gesellschaftlichen Schwächung linker Politik geführt: Der schnelle Erfolg der Grünen hat große Teile einer ganzen politischen Generation in den Block an der Macht integriert. Was bleibt, sind Leute wie Claudia Roth, für die der deutschen Rechtsstaat Stärke zeigt, wenn er „erlaubt“, dass Mohnhaupt die letzten Jahre auf Bewährung „absitzen“ muss. Kritik an der damaligen Politik und Justiz? Fehlanzeige! Nicht einmal die Öffnung der Archive und Veröffentlichungen der Protokolle der illegalen Zellenabhörungen werden noch gefordert.
So bleibt es Uwe Wesel, dem linksliberalen Juristen überlassen, deutlich zu machen, dass es sich mit den Prozessen von Stammheim um eines der „dunkelsten Kapiteln der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte" handelt, das von „zahlreiche(n) Verstöße gegen rechtsstaatliche Regeln" (FR v. 26.01.) gekennzeichnet ist.
Auch wenn es frustrierend sein mag und sich linksradikale Politik nicht darin erschöpfen kann, so ist es für die radikale Linke doch notwendig, dem Sicherheitsstaat seine eigene Melodie vorzuspielen und zu zeigen, dass er alles andere als die Verwirklichung seiner eigenen Normen ist. Mehr noch: Dass der Staat immer wieder aus seiner eigenen Logik heraus dazu treiben wird, seine eigenen Spielregeln zu verletzen – um ebenjene zu verteidigen versteht sich.
Für eine radikale linke Politik ist es deshalb nicht nur notwendig, sich kritisch und selbstkritisch mit der Geschichte des bewaffneten Kampfs auseinanderzusetzen. Zudem und vor allem ist es wichtig, Staatskritik zu üben. Was aber nicht fehlen darf, ist die Solidarität. Die Solidarität mit den Gefangenen eines außer Rand und Band geratenen Rechtsstaats.
FelS, 22. Februar 2007