Die Fabrik eines Stadtteils.
Das Jobcenter ist der größte Brötchengeber in Neukölln, hier kommen die Menschen aus dem Stadtteil zusammen - alte und junge, Leute mit Doktortitel und ohne Hauptschulabschluss, Alteingesessene und neu Hinzugezogene. Es ist deshalb nicht nur eine Institution mit enormer Wirkung auf den Stadtteil, sondern auch ein (potenzieller) Ort für Interventionen gegen Entrechtung und Ausbeutung.
Bereits seit ihrer Gründung 2005 sind Jobcenter in der Krise. Sie drückt sich in langen Wartezeiten, späten Zahlungen, einem zu hohen Betreuungsschlüssel, also der Anzahl zu betreuender »KundInnen« pro SachbearbeiterIn, aber auch in Widersprüchen und Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide aus. In Berlin-Neukölln gibt es etwa 1.500 Widersprüche pro Monat. Es rumort also, und doch bleiben die Kämpfe größtenteils vereinzelt und unsichtbar. Wie die Vereinzelung überwinden?
Im Jahr 1880 entwarf Karl Marx einen »Fragebogen für Arbeiter«. Dieser sollte einerseits der Analyse der Klassenverhältnisse dienen, andererseits die Reflexion der Befragten über ihre Situation fördern und ihre Organisierung unterstützen. Italienische MarxistInnen organisierten 1960 eine Con-ricerca (Mit-Untersuchung) bei FIAT in Turin, um die »unsichtbaren« Widerstandsformen der ArbeiterInnen zu entdecken. Marx' Fragebogen und die italienische Con-ricerca sind Beispiele für »militante«, oder: eingreifende Untersuchungen.
Für eine politische Praxis gegen das Jobcenter bot die Methode einen interessanten Ausgangspunkt: statt den Leuten das richtige Bewusstsein einzutrichtern, im Alltag nach Gemeinsamkeiten und widerständigen Handlungen suchen. Ganz ähnlich Konzepte des Community Organizing, die in den 1940ern in den USA entstanden. Community OrganizerInnen lehnten es ab, Sozialarbeit für arme Wohngegenden zu machen. Sie wollten die BewohnerInnen befähigen, für ihre Interessen zu kämpfen und diese durchzusetzen.
Unsere »Militante Untersuchung« begann im Frühjahr 2010. Sie sollte Missstände am Jobcenter politisieren, die Arbeitsweise der Institution entschlüsseln, existierende Widerstandspraktiken und subversives Wissen aufdecken und ausweiten und letztlich Teil eines Selbstorganisierungsprozesses sein. Dabei ist einiges herausgekommen.
Die 80.000 Unsichtbaren von Berlin-Neukölln
Rund 80.000 Menschen in 40.000 sogenannten Bedarfsgemeinschaften beziehen Leistungen vom Jobcenter Neukölln - als AufstockerIn, 1-Euro-JobberIn, TeilnehmerIn einer Fortbildung oder eines »Trainings« oder als FamilienangehörigeR. In einem Stadtteil mit ca. 310.000 EinwohnerInnen! Damit hat das Jobcenter bezüglich des Gesamteinkommens im Stadtteil eine ähnliche Funktion wie VW in Wolfsburg oder FIAT in Turin. Doch trotz seiner zentralen Bedeutung ist weder das Jobcenter noch die Probleme, die es produziert, ein öffentliches Thema im Stadtteil. Das hängt sicher damit zusammen, dass Erwerbslosigkeit und Hartz IV Anti-Identifikationsmuster bilden. Sie gelten nach wie vor als ein Stigma, mit dem niemand etwas zu tun haben will.
Die direkte Betroffenheit (zum Jobcenter zu müssen) wird durch eine große indirekte Betroffenheit ergänzt. Indirekte Betroffenheit meint, dass es Menschen gibt, die gerade nicht zum Jobcenter müssen, aber es in der Vergangenheit mussten, die Angst haben, erwerbslos zu werden oder deren Freunde und Bekannte im Jobcenter um ihr Recht kämpfen. Auch die indirekt Betroffenen sind tendenziell solidarisch und gegen das Jobcenter mobilisierbar. Das sind Hypothesen, die wir in der politischen Praxis überprüfen müssen.
Die Apparaturen der Entmündigung
Das Jobcenter ist ein undurchschaubarer, bürokratischer Apparat mit unzähligen Gremien, Kompetenzebenen und Feedbackschleifen. Die gesamte Steuerungsstruktur lässt sich getrost als wahnsinniges Gebilde bezeichnen. Dort finden sich: eine Trägerversammlung, ein Beirat, eine Geschäftsführung, ein bezirkliches Bündnis für Arbeit, ein »Arbeitsmarktpolitisches Rahmenprogramm« und diverse »Rahmenvereinbarungen« zwischen der Bundesagentur und der Regionaldirektion, die zu Arbeitsanweisungen für die jeweiligen Ebenen des Jobcenters werden. Diese Rahmenvereinbarungen sind unter Verschluss.
Transparenz ist ohnehin kein Steckenpferd der Armutsverwaltung: Weder gibt es Auskünfte über die »Sozialsheriffs«, die auch mal Hausbesuche machen, noch über die Sanktionen, die das Jobcenter verhängt. Selbst über Träger, Ausgestaltung und Anzahl von Maßnahmen werden keine Auskünfte erteilt. Verschwiegenheit und Kompetenzwirrwarr haben eine disziplinierende Funktion. Sie geben den »KundInnen« das Gefühl von Entmündigung und Ohnmacht.
Das Chaos am Jobcenter hängt auch mit der prekären Situation seiner Beschäftigten zusammen. Das Jobcenter Berlin-Neukölln zählt insgesamt 750 MitarbeiterInnen. Was viel klingt, umfasst alle Bereiche - von den Putzkräften bis zum Sicherheitspersonal. Die SachbearbeiterInnen haben einen offiziellen Betreuungsschlüssel von 1:130. EinE SachbearbeiterIn ist für 130 Personen zuständig. In der Praxis sind es oft doppelt so viele. Diese Belastung äußert sich u.a. in einem permanent hohen Krankenstand von 20-30 Prozent.
Die Verdichtung der Arbeit wird durch ein Controlling- und Rankingsystem organisiert, in dem Teams von jeweils etwa 15 SachbearbeiterInnen gegeneinander ausgespielt werden. Die Teams werden etwa bei der Integration in den Arbeitsmarkt, den verhängten Maßnahmen und Sanktionen relativ zueinander beurteilt. Es gibt eine Tabelle, auf der zu sehen ist, welches Team Spitzenreiter und welches Schlusslicht ist - mit den zu erwartenden Folgen für die Arbeitsatmosphäre.
20 Prozent der SachbearbeiterInnen sind befristet angestellt. Einige beschreiben ihren Job mit Begriffen wie »Hamsterrad«, was nicht verdecken soll, dass für manche auch das Gefühl, Macht über andere zu haben, ein Grund ist, die Arbeit zu machen. Für die »KundInnen« ist das Jobcenter ein Ort der massenhaften Individualisierung. Es produziert Unsicherheit, wiederholt und erneuert gesellschaftliche Hierarchien, es diskriminiert nach Migrationshintergrund, Bildungsstand, Alter, Geschlecht und teilt die Menschen in »arbeitsmarktnah« und »arbeitsmarktfern«.
Vereinfachend können wir davon sprechen, dass am Jobcenter zwei unterschiedliche Klassensegmente zu finden sind. Einmal das »hoffende« Prekariat, Menschen mit Zugang zu formal hoher Bildung und modernen Kommunikationsmedien. Die meisten bekommen irgendwann eine befristete Beschäftigung oder machen sich selbstständig, viele landen aber auch wieder am Jobcenter. Jene Erwerbslosen leisten »Widerstand«, indem sie versuchen, sich dem Zugriff des Jobcenters zu entziehen.
Die zweite Gruppe lässt sich als scheinbar »abgehängtes« Prekariat beschreiben. Sie ist - auf die am Arbeitsmarkt nachgefragten Qualifikationen bezogen - schlecht qualifiziert. Viele sind älter, besitzen keinen Emailaccount und sind durch Mobilisierungen via Internet nicht zu erreichen. Um für diese Menschen ansprechbar zu sein, bekommen Telefon und Postadresse eine neue, alte Relevanz.
Darüber hinaus und quer zu diesen Differenzierungen gibt es am Jobcenter einen großen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Die rassistische Behandlung durch das Jobcenter ist ein Problem, das Erwerbslose aus beiden Gruppen betrifft. Die Hartnäckigkeit, mit der Zahlungen verweigert werden, die Ansprache in »Ausländerdeutsch« oder bohrende Fragen an Frauen mit Hijab sind keine Ausnahme, sondern die Regel.
Ansätze des Community Organizings auszuprobieren, ergibt sich aus einer Erfahrung mit den von uns initiierten »Versammlungen gegen das Jobcenter Neukölln«, zu denen wir in unseren Gesprächen vor dem Jobcenter eingeladen hatten. Nach etwa sechs Monaten haben wir diese Versammlungen zunächst wieder aufgegeben. Es gelang uns nicht, ihnen Kontinuität zu verleihen. Die Versammlungen waren Gelegenheiten, um Informationen auszutauschen. Doch die Menschen, die einmal auf der Versammlung waren, kamen meist kein zweites Mal.
Organisierung im Spätkauf und auf dem Sportplatz
Nach diesen Erfahrungen setzen wir jetzt an jenen Orten an, an denen sich die Leute ohnehin treffen, austauschen und organisieren, auch wenn sie es selbst nicht so nennen würden: vor den Spätkaufs, in den Parks, in religiösen Gemeinschaften, Sport- und Kulturvereinen, in Nachbarschaftstreffs und Gemeindehäusern. Dort sprechen die Leute über ihre Probleme, holen sich Rat, organisieren sich Unterstützung, z.B. durch Beistände, die sie als ZeugInnen zu den Jobcenter-Terminen begleiten. Diese Orte wollen wir aufsuchen und herausbekommen, welche Rolle Hartz IV und das Jobcenter in ihnen spielen.
Bei den Gesprächen und Interviews, die wir vor dem und im Jobcenter geführt haben, ist die Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Jobcenters für den Stadtteil und seiner Repräsentation sehr deutlich geworden. Deshalb ist ein nächster Schritt, das Jobcenter in Neukölln und die von ihm produzierten Probleme im Stadtteil zu thematisieren und zu skandalisieren.
Klassische Öffentlichkeits- und Pressearbeit ist ein wichtiger Bestandteil dabei. Ein weiterer Schritt ist eine Plakatreihe, die seit einigen Wochen im Stadtteil klebt. Aus dem (gewerkschaftlichen) Organizing wissen wir aber auch, wie wichtig es ist, EntscheidungsträgerInnen öffentlichkeitswirksam mit den Missständen zu konfrontieren. Ohne diesen Druck auf EntscheidungsträgerInnen wird es zu keiner Veränderung der Institution kommen.
Um herauszufinden, welches von den vielen Problemen im Jobcenter das »heißeste« Thema ist, d.h. welches am meisten Empörung hervorruft und damit potenziell am mobilisierungsfähigsten ist, haben wir einen neuen Fragebogen entworfen, mit dem wir erneut am Jobcenter und im Kiez ins Gespräch kommen wollen. Auf diesem Weg wollen wir Forderungen formulieren und unsere Rechte in dieser Institution durchsetzen.
Francis Fox Piven und Richard Andrew Cloward bestimmen in ihrem Buch »Aufstand der Armen« die sogenannte Unterbrechungsmacht (disruptive power) als die einzige Machtressource, die dem ressourcenschwachen Milieu der Armen zur Verfügung steht. Die Arbeitsabläufe zu unterbrechen durch Blockaden oder Überbeanspruchung der Bürokratie, z.B. massenhafte Anträge, sind Möglichkeiten, die institutionelle Krise der Jobcenter zu verschärfen. Allerdings, das wissen wir noch aus der Agenturschluss-Kampagne von 2004/5, zieht das neue Probleme nach sich. So können Menschen an diesem Tag nicht zur Leistungsabteilung gehen oder andere Termine wahrnehmen. Aber auch das ist klar: Nur wenn die Institution offensichtlich nicht mehr (gut) funktioniert, entsteht Handlungsdruck bei den EntscheidungsträgerInnen - und die Dinge verändern sich.
erschienen in: analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 569 / 17.2.2012