Call for Papers arranca! Nr. 44

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Don't look back in anger - linke (Gegen-)Geschichte

Die Gruppe FelS besteht in diesem Jahr seit bereits 20 Jahren, aus unserer Sicht ganz klar ein Grund zum Feiern - aber dazu an anderer Stelle mehr.

Für die nächste arranca! ist dies nämlich zuallererst Grund einen Schritt aus dem täglichen Handgemenge zurückzutreten und die eigene Geschichte einmal genauer zu betrachten. Und dies jenseits schulterklopfender Nabelschau. Seit den ersten Nachwendejahren ist vieles in Bewegung geraten. Eine Vielzahl an Themen war seitdem Gegenstand linksradikaler Kämpfe, unzählige neue Themen und Politikbereiche wurden emphatisch begründet oder massiver Kritik unterzogen. Viele Ideen sind gefloppt, andere haben sich bewährt.

Doch welche Momente, Ereignisse, Aktionen und Ideen waren diejenigen, mit denen auch in Zukunft etwas anzufangen sein wird? Wie lässt sich Vergangenes kollektiv erinnern, konservieren, systematisieren und weiterhin nutzbar machen? Aus unserer Sicht treten dabei verschiedene zentrale Fragen hervor: Wie haben sich die Bedingungen, unter denen wir politisch aktiv, sind in den letzten 20 Jahren verändert, welche Kontinuitäten und welche Brüche gibt es? Wie sehen zeitgemäße Antworten auf das Problem von Spontaneität und Organisierung aus? Gibt es neue, bessere Antworten auf Fragen nach den Subjekten der Veränderung und nach Strategien zur Überwindung der Verhältnisse und aus welchen Erfahrungen heraus sind sie entstanden? Wie haben sich und wie haben wir die Formen von Organisierung, in denen wir aktiv sind, verändert, wie die Strukturen, in denen wir arbeiten,  die Orte, an denen wir handeln, unsere Aktionsformen und die Sprecher_innenpositionen, die wir einnehmen?

Geschichte von unten und Bewegungsgeschichte

Vor allem drei Richtungen der Geschichtsschreibung fallen auf Anhieb ins Auge: die Geschichtswerkstättenbewegung der 1980er Jahre, die Bewegungsforschung und die verschiedenen Versuche der Selbstgeschichtsschreibung von Bewegungsakteur_innen. Neben unbestreitbaren Verdiensten im Feld der „Demokratisierung“ von Geschichte lassen sich jedoch auch spezifische Schwächen der einzelnen Ansätze ausmachen: So wurde oft die alltägliche Reproduktion von Herrschaft vernachlässigt, schriftliche Quellen hingegen wurden überbetont. Entsprechend fanden das vielfältige, oft informelle Wissen und die Alltagserfahrungen sozialer Bewegungen zu wenig Beachtung. Umgekehrt war der Umgang mit Erinnerungen und „Heldengeschichten“ oft nicht ausreichend kritisch, so dass Mythenbildung begünstigt und schräge Selbst- und Fremdwahrnehmungen über lange Zeit fortgeschrieben wurden. Entsprechend ist die Geschichtspraxis der radikalen Linken über wenige einschlägige Bücher und Texte hinaus oft durch typische Plots bestimmt. Erinnerungswürdig erscheinen zumeist nur Anekdoten, postadoleszente Abgrenzungen oder Heroisierungen. Ein Aufschreiben der eigenen Geschichte halten Akteur_innen sozialer Bewegungen bisher nur selten für notwendig (und wenn, dann meist erst, wenn die „wilden Jahre“ vorbei sind). Seit Anfang der 90er hat sich das Altersspektrum linksradikaler Politik zwar erweitert, doch noch immer ist der Aufenthalt in der Bewegung zumeist von kurzer (jugendlicher) Dauer – die Bedeutung dieser Zeit für die eigene Geschichte ist begrenzt, ein Interesse an der Weitergabe von Wissen kommt selten auf, so dass die Geschichtsproduktion entsprechend hegemonialen Narrationen überlassen wird. Auch die bestehende Selbstgeschichtsschreibung muss kritisch befragt werden: Immer noch oftmals von weißen Männern fortgeschrittenen Alters betrieben, handelt es sich in der Regel um Politik- und Ereignisgeschichte – es dreht sich also viel um militante Kämpfe, Demos, Kampagnen und Großereignisse. Aber war’s das schon?

Gegengeschichte

Was ist mit den alltäglichen und vielfältigen Realitäten sozialen Beziehungen und Kämpfe gegen Diskriminierungen, Herrschaft und Ausbeutung? Was bedeutet es, die eigene Bewegung als transnationale und zunehmend vernetzte Entität zu betrachte, wohl wissend, dass mit dieser Kategorie allein noch nichts gewonnen ist? Wie sieht feministische Bewegungsgeschichte heute aus, wie die Geschichte der Migration? Wie kann eine Gegengeschichtsschreibung eines Untens, Draußens und Dagegens im Bewusstsein der bisherigen Ansätze heute aussehen? Eine Geschichtsproduktion, die nicht zur identitären Selbstvergewisserung und der bloßen Legitimation der eigenen Praxis, sondern zur Weitergabe von Wissen und zur Selbstaufklärung, zur Überwindung der ‚Altersklippe‘ in der radikalen Linken beiträgt. Statt das Rad immer wieder neu erfinden zu müssen, kann eine Beschäftigung mit der eigenen Geschichte dazu dienen, offen aber auch selbstkritisch die jeweilige Gegenwart, die Vergangenheit und das Eingebundensein der eigenen Politiken zu betrachten. An was lohnt es sich anzuschließen, welche Fehler zu vermeiden? Wie sähe ein produktives Verhältnis von Geschichte, politischer Praxis und Alltag aus, wie eines von individuellem Handeln und gesellschaftlicher Struktur, das zum Entstehen einer alltäglichen Widerstands- und Gegenkultur beitragen kann? Wie eine sinnvolle Verbindung zu den linken Teilen der akademischen Landschaft, eines von Alternativgeschichtsschreibung in den bestehenden Strukturen zur Geschichtsschreibung außerhalb dieser? Was machen eigentlich die verbliebenen Bewegungsarchive und welche Rolle können die neuen Medien für eine solche Gegengeschichte spielen?

Die arranca! Nr. 44 möchte die Möglichkeiten einer Gegengeschichte eines Untens, eines Draußens und eines Dagegens ausloten, die verdeckten Widersprüche sowie Ambivalenzen des Alltags aufdecken und einen Blick auf unsere Biografien und die unserer Noch- oder auch Nichtmehr-Genoss_innen werfen.
Wie immer geht es uns dabei nicht um das Erzielen theoretischer Spitzenwerte, sondern um die Vergesellschaftung von (Handlungs-)Wissen.



Wir freuen uns also auf eure Vorschläge und Ideen und nehmen übrigens auch gerne Artikelvorschläge entgegen, die sich nicht in erster Linie mit diesem thematischen Schwerpunkt befassen.

Die Deadline für das Einreichen der Artikelvorschläge ist der 13. April , die ausgearbeiteten Artikel müssen am 8. Mai fertig sein.

arranca! Redaktion, März 2011

Interview zur nächsten arranca! mit Radio Corax: [swf file="audio/20110304-ainterviewm-39414.mp3"]

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