...nach dem 1.Mai 2003: "Eine Frage der Spaltung"

Druckversion

Ein Teil der radikalen Linken demonstrierte am 1. Mai um 15 Uhr, ein anderer um 18 Uhr. Die Gründe für die Trennung sind nicht nur terminliche. ivo bozic und deniz yücel sprachen mit VertreterInnen einiger der beteiligten Gruppen. Ein Gespräch in der "Jungle World".

Die FAU hat sich aus dem Konflikt zwischen der 15-Uhr und der 18-Uhr-Demonstration herausgehalten und an beiden teilgenommen. Warum?

Peter Mayer (Freie ArbeiterInnen Union, FAU): Ich weiß nicht, wie diese Linke auf Außenstehende wirkt, aber gut dürfte der Eindruck kaum sein. Auch wir fanden die Diskussion im Vorfeld nervig und haben versucht, unsere Inhalte in alle Demonstrationen hineinzutragen, in die linksradikale wie in die gewerkschaftliche. Klar diskutiert man bei uns die Themen, die zur Spaltung der revolutionären Mai-Demo geführt haben, also den Irakkrieg und den Konflikt zwischen Israel und Palästina. Aber diese Dinge sind für uns nicht zentral.

Herausgehalten hat sich auch Fels. Anders als letztes Jahr habt Ihr zu keiner Demo aufgerufen.

Thomas Lecorte (Für eine linke Strömung, Fels): Damals gab es die Chance, dass eine von reformistischen und radikalen Kräften getragene Initiative dem Berliner 1. Mai neuen politischen Schwung hätte geben können. Dieses Jahr gab es von außen ein explizites Befriedungskonzept, während die innerlinke Debatte von Spaltungen bestimmt war. Wir haben keinen Sinn darin gesehen, uns in diese Form der linken Debatte einzumischen. Leute von uns waren auf allen Demos, wo wir die [sic] Kampagne »Berlin umsonst« vorgestellt haben, die sich gegen Sozialabbau und vermeintliche Spar- und Sachzwänge richtet.

Dem linken Spaltungsprozess ist eure ehemalige Gruppe, die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB), zum Opfer gefallen. Am 1. Mai haben nahmen beide Nachfolgeorganisationen an unterschiedlichen Demos teil. Spiegelte sich darin der inhaltliche Bruch in der AAB?

Ralf Freymüller (Antifaschistische Linke Berlin, ALB): Der Genosse von der FAU hat Recht. Es gibt kaum ein Ereignis, bei dem die radikale Linke so deutlich nach außen tritt wie am 1. Mai, weshalb diese Sandkastenspielchen schaden. Darum haben wir eine gemeinsame Demonstration angestrebt, auf der Grundlage des Kampfes gegen Kapitalismus, Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Krieg. Unsere andere AAB-Hälfte hat sich rasch aus der Vorbereitung zurückgezogen. Dennoch haben wir versucht, viele Gruppen zu gewinnen, um den Einfluss der Sektierer im Demobündnis zu begrenzen.

Katrin Paul (Kritik & Praxis Berlin, KP): Uns ging es nicht um eine Spaltung, sondern darum, über das Kreuzberger Kiezpublikum hinaus Leute zu erreichen, den Protest an symbolische Orte in Berlin-Mitte zu tragen und uns der Entpolitisierung des 1. Mai zu entziehen. Die AAB hat sich nicht entlang der Fragen Irakkrieg und Israel/Palästina gespalten. Auch bei KP gab es ein gewisses Unbehagen gegenüber israelischen oder anderen Nationalflaggen.

Ihr habt mit einem »antideutschen und israelisolidarischen Block« an der 18-Uhr-Demonstration teilgenommen. Haltet Ihr die Spaltung für unumkehrbar und notwendig?

Max Nord (Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus, BgAA-Berlin): Es geht nicht um Spaltung oder Einheit, auch nicht um Fahnen, sondern um Inhalte. Kapitalismus- und Herrschaftskritik muss sich konkretisieren als Kritik an Deutschland und als Kritik des Antisemitismus. Bei der 15-Uhr-Demo waren die Mao- und Stalinverehrer nicht das einzige Problem. An diesem Bündnis waren antiimperialistische Gruppen beteiligt, die im April letzten Jahres eine propalästinensische Demonstration mitorganisiert haben, einen der größten antisemitischen Aufmärsche in Deutschland seit 1945. Die ALB muss sich fragen lassen, warum sie mit solchen Leuten zusammenarbeitet. Für uns ist ein gemeinsames Vorgehen mit Teilen dieses Bündnisses absolut undenkbar.

Steht die Teilung der Mai-Demos in eine antideutsche und eine antiimperialistische symbolhaft für die Spaltung der deutschen Linken?

Lecorte: Der 1. Mai ist nicht geeignet, diese Segregierung zu illustrieren. Die meisten Leute sind sich nicht bewusst, dass mit ihrer Teilnahme an der einen oder anderen Demo eine innerlinke Parteinahme verbunden ist. Die Auseinandersetzungen werden im Mikrokosmos einer linksradikalen »Funktionärsschicht« geführt.

Anders als der Genosse vom BgAA denke ich, dass es nicht um inhaltliche Fragen geht, sondern um kollektivpsychologische Dynamiken. Wenn eine Bewegung eine zeitlang offensiv agiert, dann auf Grenzen stößt und Niederlagen erleidet, folgt eine Phase der Frustration und Isolierung. Das passiert momentan der Antifa-Bewegung. Das Thema Antisemitismus ist ein austauschbares Vehikel.

Nord: Nein, man muss linke Politik nach politischen und nicht nach psychologischen Kriterien beurteilen. Mit deiner Behauptung, es gehe nur um Gruppenidentitäten, kannst du jede inhaltliche Diskussion abbügeln.

Wie fühlen sich die AAB-Hälften nach der Scheidung?

Freymüller: Am Ende hatten wir in der AAB eine Situation, in der sich die verschiedenen Interessen gegenseitig blockierten. Die Trennung war ein Befreiungsschlag. Auch wir sind keine homogene Gruppe, aber in der politischen Herangehensweise herrscht Einigkeit. Hier liegt auch der eigentliche Knackpunkt der innerlinken Differenzen: Was will man mit der Politik erreichen? An wen richtet man sich? Nichts gegen Kritik an der Linken, aber für uns ist klar, dass die Hauptbeschäftigung der radikalen Linken nicht die Kritik an der Linken sein kann. Sie muss aus der eigenen Szene hinausgehen. Die Antiglobalisierungsbewegung oder die Friedensbewegung sind Felder, in die es einzugreifen lohnt.

Paul: Den Vorwurf des Selbstreferenziellen weisen wir an die ALB zurück. So haben wir war am 1. Mai nicht das Ziel verfolgt, in Kreuzberg auf einer Aktivistendemo im Kreis zu laufen. Die Spaltung der AAB war für uns kein »Befreiungsschlag« – eine seltsam militaristische Sprache –, sondern das Scheitern einer politischen Diskussion, die wir jetzt neu aufnehmen. Wir wollen weiterhin, etwa beim Münchner Kongress »Spiel ohne Grenzen«, über Fragen diskutieren, die über die kleine linksradikale Szene in Deutschland hinaus anstehen: Was ist links? Was heißt Überwindung des Kapitalismus und wie kommt man dahin? Es geht um die Kritik der Herrschaft und des Kapitalismus und darum, wie man mit dieser Kritik und Praxis die Welt verändern kann, ohne sich auf neue identitäre Konstruktionen zu beziehen.

Ein großer Teil der Friedensbewegung ist der eigenen Regierung hinterhergetrottet, in der Antiglobalisierungsbewegung konkurrieren, grob gesagt, eine sozialdemokratisch-staatstragende und eine antiimperialistisch-völkische Strömung. Was hat die radikale Linke in solchen Bewegungen zu gewinnen?

Freymüller: Bei der Antiglobalisierungsbewegung hat sich seit Seattle einiges verdichtet. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die weitere Entwicklung hängt auch davon ab, was die radikalen Kräfte tun, ob sie präsent und mit ihren Positionen und ihrer Praxis attraktiv sind. Richtig, die Friedensbewegung wirkte im Großen und Ganzen als Sozialdemokratie der Straße. Andererseits haben die offiziellen Friedensgruppen immer die Rolle der Bundesregierung angesprochen. Und wenn sich die Leute politisieren, wenn Schüler plötzlich auf die Straße gehen, wäre das eigentlich eine Steilvorlage für die radikale Linke. Diese Chance wurde weitgehend vertan. Stattdessen haben sich viele damit begnügt, die Bewegung als antiamerikanisch abzuwatschen.

Paul: Die Herausforderung liegt darin, die Kritik am Krieg und an dessen kapitalistischen Grundlagen mit der Kritik der deutschen Politik zu verbinden. Daher lautete unser Motto am 1. Mai: »Nie wieder Frieden, Fight New World Order, Fuck Old Europe!« Das bezog sich auf Teile der Friedensbewegung, die, selbst wenn sie sich von der Bundesregierung distanzierten, den Begriff »Old Europe« affirmiert haben, als ob Europa nicht auch für Faschismus und Kolonialismus stünde.

Nord: Die Friedensbewegung war hegemonial antiamerikanisch. Da kann man nicht einfach sagen, dass ist eine verkürzte Kritik, man muss die Leute abholen und radikalisieren. Manche Leute kannst du sicher erreichen, aber das funktioniert nur, wenn man die reaktionären Positionen der Bewegung angreift.

Lecorte: Bei der Konfrontation zweier nationalstaatlicher Blöcke oder Kapitalfraktionen musst du dich positionieren, ohne dich mit einer Seite zu identifizieren. Schon beim Jugoslawienkrieg sind einige an dieser Hürde gescheitert. Zur Antiglobalisierungsbewegung: Wie du die Frage formulierst, sitzt du einem Medienhype auf. Das linkssozialdemokratische Spektrum hat es zwar geschafft, das Erscheinungsbild der Bewegung zu dominieren, tatsächlich ist sie viel facettenreicher. Entscheidend ist, wie weit es der radikalen Linken gelingt, diesen Rahmen zu nutzen, um über nationalstaatliche Grenzen hinweg zu kommunizieren und gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen.

Mayer: Bei aller notwendigen Kriegskritik will ich darauf hinweisen, dass im Schatten des Irakkrieges etwas passiert, das in Deutschland beispiellos ist: Gerade wird der Klassenkompromiss der Nachkriegszeit entsorgt, und von dem größten Teil der Linken, auch von euch, kommt ziemlich wenig. Und wenn, klingt das eher leidenschaftslos. In der Friedensbewegung haben wir uns relativ wenig engagiert, weil wir mit innenpolitischen Problemen beschäftigt waren.

Es hieß zuweilen, die USA führten Krieg, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Würdest du sagen, Deutschland forderte aus dem selben Grund Frieden?

Mayer: Ob das ein Grund für die Antikriegshaltung ist, weiß ich nicht. Aber bestimmte Sachen lassen sich in so einer Situation leichter durchsetzen. Die ersten Hartz-Gesetze wurden beschlossen, als sich der öffentliche Focus auf den Irak konzentrierte.

Paul: Jedenfalls hat die Mobilisierung zum Frieden auch die Ziele verfolgt, wie die traditionelle zum Krieg: ein nationales Wir-Gefühl schaffen und damit soziale Widersprüche glätten; einschließlich des Bezugs auf Dresden und einer deutschen Opferkonstruktion. Das Bewusstsein, dass man 1945 nicht ohne 1933 denken kann, wurde im Zuge der Friedensmobilisierung weiter entsorgt. Die Befreiung aus seiner Vergangenheit ist ein ideologisches Ziel der Schröder-Regierung.

Das BgAA hat sich gegen den Krieg ausgesprochen, weil ihr die zu erwartenden positiven Folgen als gering eingeschätzt habt. Eine entschiedene Antikriegsposition sieht anders aus. Wird die US-Army den Kommunismus herbeibomben?

Nord: Nein. Und wir haben uns nie po sitiv auf die USA bezogen, sondern die USA in ihrer Funktion als kapitalistischen Hegemon kritisiert. Ferner haben wir gefragt, ob der Krieg zu positiven Resultaten für die irakische Bevölkerung sowie für Israel und die Region führen kann. Allerdings waren und sind wir skeptisch. Unabhängig davon haben wir die Friedensbewegung kritisiert, nicht nur, weil sie die strukturelle Gewalt des Kapitalismus ausblendet, sondern mehrheitlich an ein friedliebendes Deutschland appelliert und in geschichtsrevisionistischer Manier der deutschen Kriegspolitik einen moralischen Extraprofit verschafft.

Freymüller: Du sagst: Wir sind gegen den Krieg, aber das größte Problem ist die Antikriegsbewegung. Eure Positionierung gegen den Krieg scheint mir nur angehängt, um euch nicht allzu sehr zu isolieren.

Angesichts der Wiedervereinigung, der deutschen Großmachtsambitionen und der Pogrome verabschiedeten sich weite Teile der Linken in den Neunzigern endgültig von der sozialen Frage. Die FAU spricht von Klassenkampf. Kann man in Deutschland wieder die soziale Frage stellen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie völkisch beantwortet wird?

Mayer: Wenn es nicht anders geht, muss man Antifa machen. Aber dieses Argument spricht nicht gegen den Klassenkampf, sondern für einen richtigen ohne Volk und Nation. Bei der Linken fällt auf, dass ihr Bezug zum kapitalistischen Alltag nicht vorhanden ist. Viele sind links und machen nebenbei ihre Jobs. Irgendwo schwebt die Kapitalismuskritik, hat aber mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Die Linke muss beides zusammenbringen.

Lecorte: Die Abgrenzung gegen ein reales oder imaginiertes Volk gab es schon bei den Autonomen in den Achtzigern, das ist ein linksradikaler Reflex. Außerdem ist in Deutschland die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Zuspitzung von Kämpfen dazu führen kann, dass sie nach rechts kippen. Allerdings gibt es dieses Problem nicht nur hierzulande. Die radikale Linke muss eine Antwort finden, die weder lauten kann, sich rauszuhalten, noch sich immerzu zu radikalisieren, und wer am radikalsten ist, hat am meisten Recht.

Nord: Auch wenn wir keine Klassenkämpfer sind, will ich den Klassenkampf vor der »sozialen Frage« in Schutz nehmen. Bei letzterer geht es um Verteilungsprobleme, die in Deutschland im Zweifelsfall völkisch gelöst werden. Klassenkampf dagegen, der den kapitalistischen Modus der Produktion und der Reproduktion ins Visier nimmt, kann eine Waffe gegen völkische Vergemeinschaftung sein. Die Kritik bewegt sich dann diesseits der Personalisierung und der Moralisierung. Aber sicher ist es begrüßenswert, wenn Menschen in ihrem Alltag widerständig sind, sich gegen Drangsalierungen wehren.

Mayer: Es geht doch nicht nur um die gröbsten Unzumutbarkeiten, sondern darum, dass man sich in den Jobs, die man macht, wieder als Klasse begreift und handlungsfähig wird. Die Gesellschaft ist so verfasst, dass sich jeder Kapitalvertreter als Kapitalvertreter verhalten muss, weshalb man es sich in der Tat schenken kann, zu moralisieren. Personalisieren muss man manchmal. Wenn eine konkrete Firma die Löhne nicht ausbezahlt, muss man diese konkrete Firma dissen.

Die Linke zerstreitet sich derzeit an großen, weltpolitischen Fragen, während sie offenbar immer weniger in der Lage ist, innenpolitisch zu intervenieren. Sollte sich die Linke mehr der Innenpolitik widmen?

Lecorte: Vor allem reden wir ständig über uns selbst, auch in dieser Runde. Da werden wir nur rauskommen, wenn wir eine positive Praxis entwickeln, an die sich auch Leute anschließen können, die außerhalb dieser Debatte stehen.

Mayer: Jede soziale Intervention muss mit einem klaren Antimilitarismus verbunden sein. Anderseits kommt nur über soziale Kämpfe langfristig wieder es dazu, dass Soldaten desertieren. Die Irakis haben es schon vorgemacht. Dahin kommt man nur, wenn sich die Leute in ihrem Alltag organisieren.

Paul: Sicherlich ist es problematisch, wenn sich die Linke an Fragen spaltet, auf die sie keinen Einfluss hat, als könnte sie damit ihre Relevanz erhöhen. Allerdings ist Israel im Alltagsbewusstsein kein randständiges Thema und Antisemitismus keine Randerscheinung. Aber wenn man von radikaler Kapitalismuskritik ausgeht, erscheint die Unterscheidung in Innen- und Außenpolitik als bürgerliche. Es geht darum, kapitalistische Entwicklung »innen« und »außen« zu analysieren und zu bekämpfen.

Nord: Gerade der Antisemitismus zeigt, dass die Gegenüberstellung von Innen- und Außenpolitik falsch ist. Nach 1945 hat Israel den Platz des »Weltjuden« eingenommen und ist in Form des sekundären Antisemitismus zur Projektionsfläche deutscher Schuldabwehr geworden. Deswegen bedeutet Solidarität mit Israel zugleich eine Bekämpfung des deutschen Antisemitismus. Das heißt nicht, dass wir alles toll finden, was die israelische Regierung macht. Das Phantasma vom israelischen Vernichtungskrieg bekämpft nicht, wer das Existenzrecht als floskelhaft im Munde führt. Zum Existenzrecht Israels gehört sein Recht auf Selbstverteidigung.

Freymüller: Ich denke, dass die Bedeutung des Nahostkonflikts für die hiesige Situation überschätzt wird und zunehmend der Identitätsstiftung dient. Wichtig ist, sich Feldern zuzuwenden, in denen man intervenieren und gesellschaftliche Widersprüche aufzeigen kann. In nächster Zeit sind das etwa der G 8-Gipfel in Evian und das Bundeswehrgelöbnis im Juli.

 

Quelle: http://www.jungle-world.com/seiten/2003/20/917.php