Work in Progress. Prekarität, (Euro)Mayday und Organisierung im Land der begrenzten Möglichkeiten
Unübersehbar schickt der Frühling seine Boten ins Land: Erste Krokusse gucken schüchtern aus dem Boden, die Vögel halten Ausschau nach dem besten Nistplatz für den Nachwuchs, immer öfter huscht dieses kleine Lächeln über die Gesichter unserer Mitmenschen... und die linke Szene streitet sich heftig über die beste Demonstration am 1. Mai. Damit ist - zumindest in Berlin - wieder Normalität eingekehrt. Warum trotzdem alles anders wird, was ein (Euro)Mayday 2007 sein kann und warum das Jahr auch nach dem G8-Gipfel nicht vorbei ist, erfahrt ihr auf den nächsten 300 Zeilen.
Vor einem Jahr fand auch Berlin Anschluss an die Bewegung der prekär Beschäftigten in Europa. 6.000 zogen auf der ersten Mayday-Parade durch die Stadt und protestierten gegen die manchmal schleichende, manchmal plötzliche und dramatische Prekarisierung von Arbeit und Leben. Sie beteiligten sich auf vielfältige und kreative Weise an der Gestaltung des Umzugs und bewiesen damit, dass auch in Berlin am 1. Mai neue Formen von Protest und Widerstand dringend nötig und möglich sind.
Prekarisierung, prekär, Prekariat - diese vor einem Jahr noch nahezu unbekannten Vokabeln aus dem linken Wörterbuch sind mittlerweile in aller Munde. Doch meinen alle das Gleiche? Wir haben z.B. das "abgehängte Prekariat" (Friedrich Ebert Stiftung) oder die "neue Unterschicht" (Kurt Beck) kennen gelernt. Sie sitzt wie man hört hoffnungslos und träge, Dosenbier trinkend vor dem Fernseher und wartet, dass wieder nichts passiert. Das Berliner Stadtmagazin Zitty diskutierte unlängst die Folgen des Lebens und Denkens in Projekten für unser Liebesleben. Die Milchschaumkrone hat der Debatte freilich die "digitale Bohème" aufgesetzt, die mit lautem Hurra Existenzangst als Flexibilität und Unsicherheit als Freiheit bejubelt. Ganz nach dem uralten religiösen Motiv "Wenn du etwas nicht ändern kannst, ändere deine Einstellung dazu - und du wirst in Frieden leben und sterben."
Wird der Trend zur Prekarisierung im Feuilleton verhandelt, dominieren die Berichte der schreibenden Zunft über die eigene Situation. Auch sie bekommt das Verschwinden der klassischen ArbeiterInnenbewegung und den zusammen gedampften Sozialstaat langsam zu spüren. Die schriftlich Kreativen hier zu Lande treiben mittlerweile zwischen Existenzangst und dem Zwang zur permanenten kreativen Ausbeutung ihrer Selbst. Dabei ist die Erkenntnis gar nicht so neu, dass Selbstverwirklichung in der Arbeit vor allem darauf hinaus läuft, auch die letzten unabhängigen Persönlichkeitspartikel der Kapitalverwertung zum Fraß vorzuwerfen.
Doch egal ob die vom Abstieg bedrohte junge Mittelschicht alias digitale Bohème ihre Fantasie und Anpassungsbereitschaft abfeiert oder ob sie sich als "urbane PennerInnen" selbst bemitleidet, weil sie nicht mehr weiß, wo sie und ihr MacBook den Tag verbringen sollen - sie bemüht sich mit der Kraft der Verzweiflung, bloß keine Ähnlichkeit zu den Lidl-ArbeiterInnen erkennen zu lassen. Trotz allem mag die zunehmend eigentums- und perspektivlose Mittelschicht nicht zugeben, dass so etwas Unerotisches wie die Mindestlohndebatte auch Fragen ihres Lebens berührt. Anders als die sprichwörtlichen Neu-Reichen, die den Lebensstil ihrer Vorbilder penetrant nachahmen, üben sich die Neu-Prekären aus mittelgutem Hause krampfhaft in Distinktionsgewinn. Dabei haben sie mit dem guten alten Proletariat inzwischen mehr gemeinsam als sie meinen.
Mayday 2007 - Politische Deutungsangebote machen
Prekär ist das Leben der Lohnabhängigen seit jeher. "In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dass er Pauper ist: virtueller Pauper", wusste bereits Marx. In den kapitalistischen Nachkriegsgesellschaften des Westens wurde die Drohung mit Armut eingeschränkt - zeitweise. Wer die richtigen Voraussetzungen - gesund, männlich, weiß - mitbrachte, kam auch als Industriearbeiter für einige Jahrzehnte in den zweifelhaften Genuss des Normalarbeitsverhältnisses mit entsprechender sozialer Absicherung. Die 1.000 Schering-MitarbeiterInnen, die jetzt in Berlin entlassen werden sollen, haben sich für unkündbar gehalten. Ein Job bei Schering sei besser als ein Sechser im Lotto, hieß es. Das ist Vergangenheit - Prekarisierung lässt grüßen. Auch die jungen AkademikerInnen des Landes konnten sich lange in Sicherheit wiegen. Irgendwie haben sie doch immer eine Anstellung gefunden, selbst nach Jahren des kulturellen Ausstiegs aus der Gesellschaft. Heute beklagen sie mit einigem Recht als "Generation Praktikum" ihre Ausbeutung in unentlohnten Arbeitsverhältnissen. Hartz-Reform und neue Zumutbarkeitskriterien drohen, ihre formelle Qualifikation und ihren sozialen Status innerhalb kurzer Zeit zu entwerten.
Schon immer prekär waren Arbeit und Leben für die meisten, für die der 40-Stunden-Normalarbeitstag nicht galt. Für die Hausfrauen, die sich in materieller Abhängigkeit von ihrem Mann mit Kinderaufzucht und Herd zufrieden geben sollten, für alle, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Auch die nicht "normal" arbeitenden, die JobberInnen, die Arbeitslosen, die SaisonarbeiterInnen in Landwirtschaft und Baubranche, die Haushaltshilfen und ZeitungsausträgerInnen, die NiedriglohnempfängerInnen im Wachschutz und im Friseursalon, die Putzkräfte und KurierfahrerInnen, leben und arbeiten nicht erst seit gestern unter prekären Bedingungen. Und oft sind sie noch froh darüber, überhaupt eine Arbeit zu haben.
Prekarisierung mag vor allem jene treffen, die etwas zu verlieren haben: die Mittelschichten, die qualifizierten FacharbeiterInnen z.B. Das, was immer mehr Menschen spüren, ist aber der Zustand der Prekarität mit allem was dazu gehört: Verunsicherung, Zukunftsangst, Ohnmacht gegenüber einer Entwicklung, die einem den Boden unter den Füßen entzieht. Die historische Ausnahmephase der Nachkriegsgesellschaften, das "goldene Zeitalter" des Kapitalismus, ist vorbei, die Schonzeit für die ArbeitskraftverkäuferInnen ist zu Ende. Das Wörtchen Prekarisierung bezeichnet den Weg zurück in den Normalzustand kapitalistischer Gesellschaften.
Die öffentliche Diskussion über Unterschicht, Abgekoppelte und Überflüssige führt deshalb auf den Holzweg. Sie nährt die Illusion, es gäbe nichts Verbindendes, und diffamiert Arbeitslose als unmündig, antriebslos und dumpf. Wir meinen: Die Gemeinsamkeiten in der Prekarität nehmen zu. Und es kommt darauf an, sie sichtbar zu machen - z.B. auf dem Mayday.
Drängende Fragen auf die Straße tragen
Diese Erkenntnis ist die Grundlage dafür, um nach den Unterschieden zu fragen, ohne die Ideologie von den unüberbrückbaren Differenzen zu reproduzieren. Wo kreuzen sich die Wege der philippinischen Haushaltshilfe, die ihre Arbeitskraft nur dann verkaufen kann, wenn sie den ortsüblichen Preis unterbietet, mit denen der IT-Selbstständigen, deren Auftrag am Monatsende ausläuft und die nicht wissen, was dann kommt? Wie streikt eigentlich, wer gar kein festes Arbeitsverhältnis hat? Wie treibt jemand ohne gesicherten Aufenthalt seinen/ihren Lohn ein, wenn der Chef nicht zahlt? Was machen Erwerbslose am 1. Mai, wie können sie für ihre Interessen kämpfen? Und wie stellt sich das prekäre Leben für AsylbewerberInnen in Brandenburg dar, was sind die Konsequenzen für politische Organisierung? Nicht umsonst drehen sich die Flüchtlingskämpfe in erster Linie um Fragen, die mit dem Aufenthaltsstatus verknüpft sind, um Bewegungsfreiheit, Schutz vor Abschiebung oder vor Polizeiwillkür und -gewalt.
Beim Mayday geht es unseres Erachtens um zweierlei. Zum einen machen wir Deutungsangebote. Wir verweisen darauf, dass die tägliche Lebenssituation vieler Menschen durch den Zwang zur Verwertung geprägt ist, durch ein Leben im und für den Kapitalismus und aktuell durch die Entwicklung die wir Prekarisierung nennen. Darüber, wie es ganz anders sein könnte, wollen wir diskutieren. Dafür knüpfen wir an die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens für alle Menschen an: uneingeschränkt für jede und jeden - egal ob IndustriearbeiterIn, Flüchtling, StudentIn oder DesignerIn und zwar unabhängig von der Bereitschaft zur Arbeit. Ein solches Existenzgeld weist über die Grenzen des Bestehenden hinaus, denn wessen Lebensunterhalt gesichert ist, der muss nicht um jeden Preis arbeiten. Auch die Forderungen nach einem Recht auf Legalisierung und globaler Bewegungsfreiheit gehören auf den Mayday. Auch sie stellen einen wesentlichen Aspekt der bestehenden Ordnung, die staatliche Kontrolle über Bevölkerung und Migrationsbewegungen, grundsätzlich in Frage. Zudem wäre Legalisierung, ein "Recht auf Rechte" für viele eine Voraussetzung, um offensive Kämpfe erst zu führen. (1)
Eine Orientierung an und Diskussion um solche - utopischen - Forderungen ersetzen aber nicht die Frage nach ganz konkreten Handlungsmöglichkeiten in prekären Verhältnissen. Das ist unser zweites Anliegen. Der Mayday soll die zahlreichen kleinen Auswege und Widerstandsmöglichkeiten gegen die Zwänge der Prekarisierung sichtbar machen und zeigen, dass Organisierung etwas bringt. Auf den Mayday gehören die bereits erprobten alltäglichen Praktiken, wie die Aneignungs-Aktionen von Berlin umsonst!, die Schutzehe zwischen Deutschen und Illegalisierten oder die Selbstorganisierung der Erwerbslosen-Initiativen, aber auch die öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Überflüssigen, ebenso die unterschiedlich erfolgreichen Arbeitskampf-Experimente der letzten Jahre, der Streik bei Gate Gourmet, bei BSH in Spandau etc. Auch mit den jüngeren Versuchen der Gewerkschaften, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zu organisieren, wollen wir uns auseinander setzen, mit der Organizing-Kampagne oder der Lidl-Initiative von ver.di, mit dem Verband der WanderarbeiterInnen, der Beschäftigte in der Bauwirtschaft grenzüberschreitend vertreten soll. Die Parade soll ein Forum sein, auf dem sich unterschiedliche Erfahrungen präsentieren können, auf dem die Fragen diskutiert werden können, die uns unter den Nägeln brennen. Wir laden alle ein, ihre persönliche Situation, ihre Themen, Wünsche und Bedürfnisse auf die Straße zu tragen und sich mit Wagen, Aktionen und anderen Ausdrucksformen am Mayday zu beteiligen.
Es ist uns klar, dass ein solcher Jahrmarkt der linken Möglichkeiten allein nicht ausreicht, um der Prekarität des (Über-)Lebens befriedigende Antworten entgegen zu setzen. Wir wissen aber, dass wir gegenwärtig nicht viel mehr leisten können, als einen Austausch- und Lernprozess und eine "Politik der guten Beispiele" zu organisieren, die zumindest punktuelle Auswege aus den Verhältnissen aufzeigen. Wir würden uns freuen, wenn es nicht dabei bleibt, wenn am Ende mehr entsteht als ein Nachbereitungstreffen, das vielleicht noch gemeinsam mit den Euromärschen zu den G8-Protesten nach Heiligendamm mobilisiert. Wenn Organisierung die Antwort auf prekäre Verhältnisse ist - und das behaupten wir ja - dann muss der Austausch unter uns verfestigt werden. Um wirkliche Perspektiven zu entwickeln, müssen wir uns auf die Suche begeben nach den Konfliktlinien und Widerstandspotenzialen, die im prekären Alltag liegen. Dabei können wir auch auf die Erfahrungen des europäischen Mayday-Netzwerks zurückgreifen: mit San Precario und seinen Anlaufstellen in Italien, mit den Superhelden in Hamburg, mit der Massenbewegung gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes in Frankreich. Dann kann aus dem Sammelsurium sozialer Kämpfe irgendwann der Kampf werden, der die ganze Scheiße beendet!
Wider die revolutionäre Selbstvergewisserung
Zunächst und vor allem aber geht es dieses Jahr beim Mayday darum, als Parade der Prekären dieser Stadt gemeinsam mit unseren Freundinnen und Freunden aus vielen Städten Europas zu zeigen, dass sich nicht nur die prekären Verhältnisse ausbreiten sondern auch die Kämpfe dagegen. Wir erinnern daran, dass der 1. Mai neben einem Kampftag auch ein Feiertag ist, ein Feiertag für den Einfallsreichtum der Ausgebeuteten und für ihre Erfolge gegen Staat und Kapital. Sorgen wir dafür, dass es wieder was zu feiern gibt - auch in Berlin!
Für eine linke Strömung (FelS), Berlin
Anmerkung:
1) Diese Themen aufzuwerfen halten wir übrigens für weitaus radikaler als sich mit Platituden wie "Smash Capitalism" lediglich der eigenen revolutionären Haltung zu vergewissern - ganz so als ob man umso revolutionärer wäre, je öfter man sagt, wie revolutionär man ist.
Erschienen in: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 515 / 16.3.200